Ein narratives Denkmodell zwischen Utopie und Dystopie
„Natur als Bezugsgröße von Ästhetik, Ethik oder Kunst ist ein Dauerbrenner, doch nimmt man den gegenwärtigen theoretischen Diskurs ernst, dann wird der Begriff der ‚Natur’ im Wortschatz zukünftiger Generationen nur noch als Reminiszenz existieren. Vielerorts sind Bemühungen zu erkennen, die für eine Überwindung der Dichotomie von Natur und Kultur plädieren. Sie sind eine Reaktion auf die massiven Auswirkungen menschlicher Technologien, die in alle Bereiche des Lebens und der Umwelt eindringen.“ (Judith Elisabeth Weiss, Konstruktion und Dekonstruktion des Natürlichen)
In ihrer künstlerischen Praxis nimmt Lena Policzka das traditionsreiche Gegensatzpaar Natur und Kultur in den Blick und stellt die komplizierte Beziehung von natürlich Vorhandenem als Motiv- und Ideengeberin der Kunst und vom Menschen Konstruiertem auf den ästhetischen Prüfstand. Natur sowie kulturell Geschaffenes verbinden sich im Kontext ihrer Kunst zu einem vielschichtigen Denk-Raum. In ihm geht es um die Aufhebung der Polarität von Künstlichem und Natürlichem.
Einer der Gründe für den großen Überlebenserfolg jedes Ameisenvolkes besteht darin, dass es in gut funktionierenden Staaten organisiert ist. Hunderttausende bis zu mehrere Millionen Waldameisen bevölkern einen Ameisenhügel, der in der Videoinstallation Rush: Trojan Horse zum Inbegriff einer utopischen Welt wird, auf eine strukturierte, schöne und friedfertige Zukunft verweisend. Auf der Kuppe dieses Hügels, der den Ameisen auch als Sonnenkollektor dient und ein intaktes Stück Natur verkörpert, thront eine rosafarben glitzernde Zuckerskulptur. Größer könnte die Verlockung in Gestalt des verzuckerten Objekts nicht sein. Entsprechend rasch erklimmen die Ameisen das feingliedrige Gebilde und schlecken hemmungslos. Makroaufnahmen von ihnen evozieren menschliche Analogien. Im Medium des Films kippt die Realität in eine rosafarbene Traumlandschaft, die sich genussvoll-verführerisch und wolkig-leicht immer wieder verändert. So rücken die bewegten und zum Teil verschwommenen filmischen Bilder die Möglichkeitsformen utopischen Denkens in den Fokus: die menschliche Fähigkeit sich in neue, zukünftige Welten zu denken und zu träumen – jenseits des real Gegebenen und Vernünftigen und unter bewusster Ausblendung möglicher Folgen des eigenen Tuns.
Die Konsequenzen sind in der vis-à-vis der Videoprojektion stehenden Skulptur Rush: Deposition of Utopia visualisiert, bestehend aus einem Bohrkern, der vorgibt, den Längsschnitt durch den Ameisenhügel von oben bis tief in das Erdreich zu zeigen, und einer rosafarbenen Skulptur. Erinnert dieses industriell anmutende Designmodell an ein außerterrestrisches Lande- oder Aufstiegsvehikel, an eine Art Mondlandefähre oder Sonde? Es ist ein verführerisch schöner, fragil und kostbar wirkender Fremdkörper, der auf dem Bohrkern gelandet und zugleich teilweise mit ihm verschmolzen ist, wie der Blick in das Innere enthüllt. Durch die klebrigen Zucker-Ausscheidungen der Ameisen sind die Gänge verstopft. Ameisenbauten bestehen in der Regel aus verzweigten Gängen und mehreren Kammern, in denen Vorräte gespeichert und die Nachkommen versorgt werden. Demzufolge hat die süße Überdosis – so das Ergebnis des künstlerischen Forschungsprojekts – zwangsläufig zu einer Zerstörung des eigenen Lebensraumes geführt. Damit richtet sich der Blick in eine dystopische Zukunft, dem Gegenentwurf zur Utopie.
„Die fortlaufende Werkreihe Rush beschäftigt sich mit der Frage, ob die Menschheit die Natur als maßgebliche, unsere Umwelt gestaltende Kraft abgelöst und somit die seit jeher geltenden Gesetze der Evolution ausgehebelt hat“, so die Künstlerin. In ihrem symbolisch aufgeladenen Denk-Raum nimmt sie deshalb die Veränderlichkeit von Natur, die Bezüge von Natur und Wissenschaft, Erinnerung und Verlust, Statik und Bewegung in den Blick. Sie sensibilisiert für die Zerbrechlichkeit natürlicher Ökosysteme, die vom Menschen im Zeitalter des Anthropozäns verändert, gestört bzw. zerstört werden. Hierzu bedient sie sich des kleinen Formats, das grundsätzlich dem Experiment und der Erkenntnis dient. Im Miniaturformat lassen sich modellhaft komplexe Realitäten erfassen, bzw. nimmt ein allumfassendes Konzept anschauliche Gestalt an. Der Ameisenhügel ist als bildhaftes Modell eines geordneten, in sich geschlossenen Staatensystems zu sehen, eine utopische Welt en miniature. Mit der Anwesenheit der kleinen Zuckerskulptur kommen dann kulturelle Verlockungen auf, nicht nur als Konsumangebot und somit als direktes sinnliches Genusserlebnis sondern auch, ausgelöst durch die inspirierende Form, als stimulierendes Vehikel für geistige Abenteuer und Zukunftsphantasien. Es ist dieses Spannungsfeld von Realität und Fiktion, das sich im miniaturisierten Modell besonders erkunden lässt. Hier lotet Lena Policzka das Potenzial der Kunst zum lustvollen Imaginieren aber auch zum kritischen Analysieren und anschaulichen Sichtbarmachen von gesellschaftlichen Konventionen sowie menschlichen, ökologischen und sozialen Beziehungsgeflechten aus und positioniert sich.
(Text: Heiderose Langer)